Melanie Siegel – Anderswo. Ein phänomenologischer Streifzug.
Katalogtext von Anne Simone Krüger, 2019
Ein Hausgiebel lugt über einer Hecke hervor, scheint vorsichtig nach draußen zu spähen. Ein efeubewachsener Anbau blinzelt durch zwei, gerade so vom Blattgrün freigeschnittene Fenster in die Welt. Dann plötzlich wird der Blick verstellt – eine rote Backsteinwand offenbart nur noch eine Ahnung von Fenster, die Öffnung ist zugemauert. Norddeutscher Klinker findet sich auch auf dem Boden, ein auffallendes Muster, das durch den Schatten eines Baumes ein zusätzliches Ornament erhält… Die neuen Bilder von Melanie Siegel laden den Betrachter auf einen Spaziergang ein, der die Poesie der Kleinstadt inszeniert. Scheinbar Banales wird hier zum Hauptprotagonisten, Alltägliches wird bildwürdig und damit zum Besonderen. Die Bilder zeigen Motive, die uns allen vertraut sind, die wir unzählige Male gesehen zu haben meinen und die wir doch selten wirklich sehen. Vermeintliches Wiedererkennen des Abgebildeten endet in Orientierungslosigkeit – die Bilder zeigen das „Überall und nirgends“, das „Anderswo“.
Anderswo hat eine lange Bildtradition. Bereits im 17. Jahrhundert tritt in Italien die Bildgattung der sogenannten Vedute auf, im 18. Jahrhundert erfährt sie ihre Blüte. Es ist schick zu reisen und natürlich möchte man den Zuhausegebliebenen ein Bild der Orte vermitteln, denen man in der Ferne begegnet. So werden die ortskennzeichnenden Charakteristika bildlich eingefangen. Die Vedute, das Gesehene bzw. das, was man sieht,[1] vermittelt ein Bild eines Ausschnittes der Wirklichkeit, ohne dabei objektiv zu sein. Das Kolosseum in Rom, der Markusplatz in Venedig, Ruinen und Kirchen sind zentrale Momente dieser Gattung, deren bekannteste Vertreter Künstler wie Piranesi oder Canaletto sind. Dennoch nehmen sich die Vedutisten die Freiheit, die Wirklichkeit umzugestalten, um sich der Wesenhaftigkeit der Stadt zu nähern. Gleiches lässt sich in den Arbeiten von Melanie Siegel betrachten, die ähnlich und doch ganz anders funktionieren.
Denn auch die Motive ihrer Bilder haben ihren Ursprung in der Realität, werden dann jedoch auf ihr Wesentliches hin zugespitzt. Mit der Kamera oder dem Skizzenbuch als Hilfsmittel, um die Eindrücke festzuhalten, macht sich die Künstlerin auf den Weg, flaniert durch die Stadt. Und fertigt Charakterstudien des Ortes, an welchem sie sich gerade befindet. In den Arbeiten dieses Kataloges ist es das Wesen von Bremervörde, welches sie mit dem unverstellt neugierigen Blick des Gastes in einer anfangs fremden Stadt einfängt. Die Fotografien und Zeichnungen funktionieren dabei als Gedankenstütze oder als Möglichkeit, einen Ausschnitt zu fokussieren. Das gesehene Szenario wird im Atelier mit inneren Bildern verwoben und durch gestalterische Umformungen atmosphärisch verdichtet. Insofern täuscht, wie so oft, der erste Eindruck. Die Bilder sind nicht fotorealistisch, wollen es auch gar nicht sein. Stattdessen inszenieren sie Eindrücke, erinnern teils an filmische Szenarien und zeichnen sich dennoch gerade dadurch aus, dass sie auf alles Anekdotische verzichten. Kein Mensch bewegt sich durch die Bildsituationen, kein Lüftchen regt sich. Die gleichmäßige Ausleuchtung, das Licht, das von überall und doch von nirgends kommt, verleiht den Bildern etwas Artifizielles und zusätzliche Zeitlosigkeit. Verstärkt wird dies durch die strenge Anordnung und die zentrierte Komposition. Statt Dokumentation zu sein, wirken sie wie eingefroren, wie aus der Zeit gefallen. Gerade dadurch gewinnen sie die Allgemeingültigkeit, die an unser kollektives Bildgedächtnis anknüpft, die sie jedem von uns vertraut und zugänglich macht. Wir beginnen die Werke mit eigenen Vorstellungen zu füllen, das Kopfkino setzt ein und jeder Betrachter fängt an, die Motive mit subjektiven Assoziationen, Erfahrungen und Erlebnissen zu füllen. Dadurch kommen wir der Realität auf eine andere, unmittelbarere Weise nahe. Die Welt wird hier insofern wahr, als wir sie doppelt erleben: Zum einen sehen wir uns ihr im Bild gegenüber, haben die Zeit sie in diesem eingefrorenen Moment und diesem Ausschnitt in Augenschein zu nehmen, einen Schritt zurück zu treten und den Moment jenseits der Vergänglichkeit mit all der Zeit zu betrachten, die wir brauchen, um alle Eindrücke aufzunehmen. Ohne ein Wechselspiel des Lichtes, ohne atmosphärische Veränderungen oder Bewegung. Zum anderen geben unsere Assoziationen und Erinnerungen sowie das stete Gefühl des Wiedererkennens den Bildern eine zweite Ebene der Erfahrung. Wir sehen und erleben den tastenden Blick der Künstlerin, der sich in den einzelnen Pinselstrichen materiell niederschlägt. Jedes Ansetzen des Pinsels ist ein weiteres bewusstes Wahrnehmen, das sich insbesondere freimacht von Vorurteilen.
Was sehen wir wirklich und was meinen wir zu sehen, weil wir es vermeintlich bereits wissen? Melanie Siegels Bilder lassen sich durchaus als gemalte Phänomenologie betrachten. Denn die Künstlerin verzichtet auf alles Spekulative, auf jegliches vorgefasste Urteil und zeigt das, was sie sieht, wie sie es erlebt. So führt sie auch uns als Betrachter zum eigentlichen Phänomen zurück und bietet uns die Möglichkeit, scheinbar Vertrautes mit ganz neuen Augen zu sehen. „Zu den Sachen selbst“ forderte der Vater der phänomenologischen Strömung der Philosophie Edmund Husserl. Und stellt mit diesem Ansatz „unsere persönliche Welt in ihrem ganzen Reichtum wieder her, so wie sie sich uns aus unserer eigenen Perspektive darbietet, auch wenn wir ihr in der Regel nicht mehr Beachtung schenken als der Luft, die wir atmen“.[2] Gerade, wenn man lange an einem Ort gelebt hat, meint man alles zu kennen und vergisst darüber, genau hinzuschauen. Und nicht nur mit dem gewohnten Umfeld geht es uns so, das Prinzip lässt sich auf alles übertragen. Der Mensch neigt dazu, wissend zu sehen. Melanie Siegels Bilder brechen dieses Schema auf, indem sie mit unseren Gewohnheiten spielen. Sie bietet uns die Möglichkeit, ungewohnte Perspektiven einzunehmen und scheinbar Vertrautes durch ihre Augen neu zu sehen.
Dieses Potential der Malerei, alternative Blickwinkel auf die Welt anzubieten, zieht sich durch das Schaffen der Künstlerin. Dennoch nimmt der in Bremervörde entstandene Werkzyklus eine Sonderstellung im Gesamtwerk ein. Wo in den Grenzräumen moderner Landschaftsmalerei sonst Urbanität und Natur in einer Kollision aufeinandertreffen und letztere sich den Stadtraum zurückzuerobern scheint, herrscht in dieser neuen Serie stille Übereinkunft. Das Wechselspiel von Natürlichem und Artifiziellem, von Ursprünglichem und von Menschenhand Geschaffenem hat sich hier zu einem Miteinander entwickelt. In der Kleinstadt, so scheint es, gelten andere Regeln als in den großstädtischen Metropolen. Kleine Momente sind es jedoch auch in den für die Künstlerin typischen Sujets wie überwucherte Tore, Hecken deren Wurzeln das Straßenpflaster aufbrechen, der Blick durch einen gitterartigen Strommast auf die dahinterstehenden Bäume oder Tennisplätze aus der Vogelperspektive, an deren Rändern das Grün sich neugierig über den roten Sand beugt. Betrachten wir die Bilder als eine große Erzählung, die sich über mehrere Schaffensjahre erstreckt, dann wird deutlich, dass selbst die Arbeiten, in welchen die Künstlerin auf offensichtliche menschliche Spuren verzichtet, letztlich urbane Landschaften sind. Der Wald ist stets ein Forst, fein säuberlich in Reihe gepflanzt, und auch die Äcker sind vom Menschen geformt. So gehen wir unweigerlich davon aus, dass der Mensch nicht weit sein kann und müssen doch feststellen, dass er im Kosmos der Künstlerin nicht physisch anwesend ist.
Gerade durch seine Absenz tritt er als Modelleur der Landschaft umso präsenter in Erscheinung. Auch in der Werkreihe „Anderswo“. Wobei ihm hier eine weitere Rolle zukommt: Es sind die menschlichen Geschichten, die sich in den Häusern hinter den Hecken abspielen und es ist die menschliche Wahrnehmung, an die in den Bildern appelliert wird. So zielt auch die serielle Reihung der einzelnen Motive an die subjektive Rezeption und stößt einen Reflexionsprozess an. Ein Häusergiebel ist relativ, eine Reihung leicht verschiedener Giebel lässt das Sujet umso eindringlicher werden und rückt die Unterschiede und Besonderheiten in den Fokus, stellt eine Studie der Annäherung dar. Auch die Wiederholung des Motivs von mit Klinker gestalteten Böden im Außenraum liefert Varianten eines Themas, die sich durch minimale Abweichungen auszeichnen. So umfasst die im ersten Augenblick banal wirkenden Themen ein konzeptioneller Rahmen, in dem sie sich mit einem über die eigene Bedeutung hinausgehenden Inhalt aufladen. Für den Betrachter erhält das Einzelmotiv dadurch eine im Alltag gänzlich unbemerkte Relevanz. Darüber hinaus lässt es ahnen, dass hier die Geschichten mitschwingen, die die Künstlerin während ihrer sechswöchigen Residency in Bremervörde von den Bewohnern der Stadt erzählt bekommen hat. Diese Geschichten verdichten die Motive weiter, beeinflussen wiederum den Blick von Melanie Siegel und die Art, wie sie die Stadt erlebt. In ihren Bildern gibt sie sie unserer Imagination – ohne sie konkret zu benennen – zurück. Es liegt nun an uns, diese Unbestimmtheit aufzugreifen und sie uns zu eigen zu machen, sie mit individuellen Erfahrungen zu befüllen. Beim nächsten Spaziergang wird vermutlich jeder von uns seine Umgebung mit ganz anderen Augen sehen. Und immer wieder das Gefühl haben, Szenarien zu kennen – aus den Bildern von Melanie Siegel, die dann bereits wieder in München ist und dort mit dem Pinsel die Essenz der Stadt einfängt.
[1] Vgl. Wiench, Peter (Hg.): Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst. Eggolsheim 2006.
[2] Sarah Bakewell: Das Café der Existentialisten. Freiheit, Sein und Aprikosencocktails. 2. Aufl. 2016, München 2016, S.60.